Daniel arbeitete in der »Abteilung für
Sehnsuchtsmanagement«. Seine Aufgabe war es, Algorithmen zu füttern, die den
Menschen genau das verkauften, was ihnen fehlte. Ein Parfüm, das nach »Sommerregen auf Asphalt« roch, weil niemand mehr Zeit hatte, im Regen stehenzubleiben. Eine VR-Brille, die das Lachen eines Kindes simulierte, weil echte
Begegnungen zu unvorhersehbar und damit ineffizient waren.
Als er sich auf dem Nachhauseweg befand, begann es zu
schneien. Doch es war nicht nur Schnee aus Wasser, es war auch der feine, graue Staub der
Erschöpfung. Es war der Ruß, der mit dem Ostwind aus den Fabriken, die Tag und Nacht »Glück« in Plastik
pressten, auf die Stadt nieder rieselte. Die Menschen hasteten mit gesenkten Köpfen aneinander vorbei, die
Gesichter im kalten Blaulicht ihrer Handflächen vergraben. Sie hatten verlernt,
in die Augen des anderen zu blicken. Ein Blick war ein Risiko. Er könnte eine
Verbindung fordern, die Zeit kostet. Und Zeit war die Währung, mit der sie ihre
eigene Leere bezahlten.
Wir besitzen alles, dachte Daniel, während er später am
Abend aus dem Fenster im 40. Stock sah, aber wir gehören niemandem. Nicht
einmal uns selbst.
Eines Abends, als die Krise der Rohstoffknappheit die
Lichter der Stadt flackern ließ, blieb der Aufzug stecken. Mit Daniel in der
Kabine war eine alte Frau. Sie trug keinen digitalen Feed an ihrem Handgelenk.
Sie hielt einfach nur eine kleine, zerbeulte Thermoskanne in der Hand.
„Es schneit heute besonders heftig“, sagte sie leise.
Daniel starrte auf die Anzeige des Aufzugs. „Das System wird es in 4,2 Minuten reparieren. Wir verlieren Produktivität.“
Die Frau lachte, ein Geräusch wie trockenes Laub. „Wissen
Sie, Daniel – ich kenne Ihren Namen von Ihrem Anstecker –, die Seele ist wie dieser
Schnee. Wenn man sie zu fest drückt, um daraus etwas zu formen, schmilzt sie zu
Wasser. Wenn man sie ignoriert, wird sie zu Eis. Aber wenn man sie einfach
fallen lässt, deckt sie alles Graue zu.“
Sie bot ihm einen Becher Tee an. Er schmeckte nicht nach
künstlichen Aromen. Er schmeckte bitter, heiß und echt. In diesem Moment, in
der Enge des steckengebliebenen Aufzugs, weit weg vom Blinken und Rauschen der Werbebanner,
spürte Daniel eine seltsame Vibration in seiner Brust. Es war kein technisches
Signal. Es war ein Schmerz.
Als der Aufzug sich wieder bewegte, trat Daniel nicht hinaus
in sein Büro. Er fuhr hinunter ins Erdgeschoss. Er trat hinaus auf die Straße,
mitten in den grauen Ascheschnee und sah die Menschenmassen. Der Manager, der
drei Gespräche gleichzeitig führte und dabei vergaß zu atmen. Die junge Frau, die ein neues Gesicht kaufte, weil ihr eigenes ihr zu gewöhnlich erschien. Die Kinder, die lernten, dass Liebe ein „Like“
ist und Einsamkeit nur ein leerer Akku.
Daniel blieb stehen. Er schloss die Augen. Er versuchte
nicht, etwas zu kaufen, um das Loch in ihm zu füllen. Er ließ das Loch einfach
da sein. Und plötzlich, unter der Schicht aus Stress, Konsum und künstlichem
Licht, spürte er es. Das leise Zittern des Daseins.
Es war keine Lösung für die Krisen der Welt. Es war kein
Produkt, das man bewerben konnte. Es war nur die schmerzhafte, wunderschöne
Erkenntnis, dass er noch am Leben war – ein kleiner, zerbrechlicher Funke in
einer Welt, die vergessen hatte, wie man das Feuer hütet.


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