Margot war stolz auf ihren »weiten Horizont«, ihre Bildung und ihr Wissen. In ihrer gemütlichen Altbauwohnung reihten sich Bücherregal an Bücherregal neben moderner Kunst, und ihr Teeregal in der kleinen Küche war eine Weltreise für sich. Wenn sie im Nachbarschaftscafé saß, betonte sie oft, wie wichtig es sei, »das Herz für alle Wesen zu öffnen«. Sie nannte sich eine Menschenfreundin, die alle Menschen liebte, eine Verfechterin der Toleranz und des Guten. Und sie fühlte sich den Feministinnen zugehörig, zu deren neuen Gepflogenheit es selbstverständlich gehörte, zu gendern. Doch Margots Toleranz hatte eine unsichtbare Grenze und diese Grenze waren ihre eigenen Überzeugungen und Ansichten. Ihren Nachbarn vermittelte sie den Eindruck, dass ihre Meinung die einzig richtig war.
Wenn sie sich mit ihrem Nachbarn unterhielt und er über seine Arbeit in der freien Wirtschaft sprach, legte Margot den Kopf schief und lächelte mitleidig. Sie hörte ihm nicht einmal zu, sondern wartete nur auf eine Atempause, um ihm zu erklären, dass er damit doch nur seine Zeit vergeude. Als er es wagte, ihr zu widersprechen, passierte etwas Seltsames. Margot wurde nicht laut. Sie wurde still. Sie sah ihn an, als wäre er ein trübes Fenster, durch das man nicht mehr hindurchsehen konnte. In den darauffolgenden Wochen vermied sie es, ihm zu begegnen. Sie ging ihm sogar aus dem Weg. Für Margot war das kein Streit, es war eine Art Reinigung ihres Umfelds von negativer Energie. Wer nicht in ihr Bild einer besseren Welt passte und sich nicht in Toleranz übte, hörte für sie einfach auf, zu existieren.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf, als Margot ein Nachbarschaftsprojekt für einen neuen Gemeinschaftsgarten initiiert. Sie will einen Ort der Begegnung schaffen – »für jeden«, wie sie ausdrücklich betonte.
In der ersten Planungssitzung schlägt Herr Weber, ein pensionierter Polizist aus dem Erdgeschoss, vor, den Garten nachts abzuschließen, um Vandalismus vorzubeugen. Die Stimmung im Raum kippt sofort. Margot lächelt ihr gütiges Lächeln, aber ihre Augen bleiben kalt. „Wir bauen hier keine Mauern der Angst, Herr Weber“, sagt sie mit Nachdruck.
Als andere Nachbarn ihm zustimmen, fühlt Margot sich verraten. In ihrem Kopf sind diese Menschen plötzlich keine Nachbarn mehr, sondern »Ewiggestrige«, die den Geist des Projekts vergiften. Sie beginnt, Treffen ohne sie zu organisieren. Sie schickt Rundmails, in denen sie die »harmonische Kerngruppe« lobt und die anderen einfach ausschloss.
Am Ende steht Margot allein in ihrem Gartenprojekt. Die Pflanzen wachsen, aber die Bänke sind leer. Diejenigen, die sie »ausgeschlossen« hat, haben sich enttäuscht zurückgezogen. Und diejenigen, die anfangs auf ihrer Seite waren, haben Angst bekommen. Angst, dass das nächste falsche Wort sie ebenfalls in die unsichtbare Verbannung treibt.
Margot sitzt auf ihrer Designerbank in ihrem kleinen Hinterhofgarten, trinkt ihren fair gehandelten Tee aus einer ihrer teuren Teetassen und spürt eine schneidende Kälte. Sie sagt sich, dass sie die Einsamkeit der Erleuchteten gewählt hat. Doch tief im Inneren beginnt sie zu ahnen, dass ihre »Toleranz« nur ein Spiegel war, denn sie hat nie die Menschen geliebt, sondern nur ihr eigenes Echo in ihnen.
~*~
Beliebt sein ist wirklich einfach.
Du musst anderen nur nach dem Mund reden
und sagen, was sie hören wollen.
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