Montag, 29. Dezember 2025

Geschichten zwischen den Jahren "Der alte Uhrmacher"

Alex, der alte Uhrmacher, lebte in einer Stadt, in der die Menschen plötzlich aufhörten, die Zeit zu messen, und stattdessen begannen, sie zu fangen.
Früher kamen die Leute zu ihm, um das Ticken ihrer Uhren zu richten. Doch eines Tages bemerkte er, dass sie nicht nur kleine, runde Glasscheiben um ihr Armgelenk banden, sie hielten auch kleine, leuchtende Glasscheiben in den Händen. Wenn sie vor einem prachtvollen Abendessen saßen, vor einer blühenden Wiese standen oder das Lachen eines Freundes hörten, erstarrten sie. Sie hielten die Glasscheibe vor ihr Gesicht, ein kurzes Klicken ertönte, und der Moment war eingefangen.


Eines Abends beobachtete Alex eine junge Frau in seinem Laden. Sie hielt einen kleinen, duftenden Kuchen in der Hand, den sie auf der Ladentheke neben der kleinen, wunderschönen Spieluhr abstellte, die sie durch das Schaufenster gesehen hatte. Minutenlang suchte sie nach dem perfekten Lichteinfall. Dann fotografierte sie den Kuchen zusammen mit der Spieluhr von oben und von der Seite. Sie tippte eifrig auf ihrer Scheibe herum und widmete sich dann dem Bild auf der Scheibe. Den Kuchen schob sie achtlos beiseite.
„Warum tust du das, Kind?“, fragte Alex sanft. „Der Kuchen wird kalt, und der Duft verfliegt, während du nur das Bild betrachtest.“
Die junge Frau sah auf und in ihren Augen lag eine seltsame Unruhe. „Wenn ich es nicht zeige“, flüsterte sie, „dann ist es, als wäre es nie geschehen. Wenn niemand sieht, dass ich hier war, wie kann ich dann sicher sein, dass ich existiere?“

Alex schaute sie verdutzt an und verstand in diesem Moment das tiefe Paradoxon dieser neuen Welt. Die Menschen litten nicht an Eitelkeit, sondern an einer tiefen, existenziellen Angst vor der Vergänglichkeit. Sie brauchten einen Beweis des Seins. In einer Welt, die sich immer schneller dreht, fühlt sich das Individuum oft klein und unsichtbar. Das Posten des Kuchens, des Tagesablaufs, der neuen Vase, der Reise, des Zirkusbesuchs oder des eigenen Lächelns als Selfie, ist ein moderner Schlachtruf. „Seht her, ich bin hier! Ich nehme Raum ein! Mein Leben hat Farbe!“ Das Foto ist der digitale Fußabdruck im Sand der Zeit, in der Hoffnung, dass die Flut ihn nicht sofort wegspült.

Während Alex die junge Frau beobachtete, dachte er, dass jedes Foto so eine Art Flucht vor der Leere oder dem Tod zu sein scheint, ein kleiner Sieg über den Tod. Die Menschen versuchen, den Fluss der Zeit anzuhalten und in einen ewigen Augenblick zu verwandeln. Doch indem sie den Moment einfangen, verlassen sie ihn oft. Sie sind nicht mehr der Teilnehmer, sondern der Verwalter ihrer eigenen Existenz. Die Menschen präsentieren ihre Existenz der Welt, weil sie nach Anerkennung dürsten. Ein „Like“ ist wie ein fernes Echo aus dem Wald, das ihnen bestätigt: „Ja, wir hören dich. Wir sehen dich.“ Ohne dieses Echo fühlen sich viele Menschen in der Stille ihrer eigenen Existenz verloren.

Alex trat hinter seinem Tresen hervor und sagte zu der Frau: „Wusstest du, dass ein Schmetterling aufhört zu fliegen, wenn man ihn auf ein Brett nadelt, um seine Schönheit zu bewahren? Er ist dann zwar für immer schön, aber er ist nicht mehr lebendig.“

Die Menschen, so erkannte der alte Uhrmacher, bauten sich digitale Museen ihrer selbst, um die Welt daran teilhaben zu lassen. Sie verbrachten Stunden damit, die Museumsstücke zu polieren – das Essen, die Reisen, den Ausflug, das Glück. Doch während sie die Galeriewände ihres Lebens schmückten, vergaßen sie oft, in den Räumen selbst zu leben.

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Leben - es gibt nichts Selteneres auf der Welt.
Die meisten Menschen existieren, weiter nichts.

Oscar Wilde (1854 – 1900),
war irischer Lyriker, Dramatiker und Bühnenautor

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Beste Wünsche und gute Träume
für zwölf magische Raunächte zwischen den Jahren
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🙏God bless Ukraine and Israel 🙏
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🌟Bild mit KI erstellt by Lauras Home and Garden🌟

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