Dienstag, 20. Februar 2024

Abenddämmerung oder Morgendämmerung.

  Auszüge aus Kurt Tucholskys Werk »Dämmerung« vom 11. März 1920,
 weil es so gut in die heutige Zeit passt.
 


Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes. Die Leute gehen täglich ihren Geschäften
nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten
und lesen Bücher – aber es ist alles nicht wahr.

Sie reden verschiedene Sprachen und sie verstehen einander nicht. Sie sprechen aneinander
vorbei, und sie haben weniger gemeinsam denn je. Seltsam, dieses Bürgertum. Seltsam
dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt.
Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht? Es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise;
Geschäfte, die zwar immer noch nach einem alten ›Recht‹ abgeschlossen werden – aber
die Vorstellungen von diesem Recht lösen sich auf, lösen sich langsam auf wie Kristalle im
Wasser und zergehen zu nichts. Wohin führt das alles –?

Wir versuchen, dem gänzlich Neuen, mit den alten Mitteln, den alten Witzchen beizu-
kommen. Und werden seiner nicht Herr. Es verfängt alles nicht: Humor nicht, Satire nicht;
offener Kampf, Gewalt, Propaganda – die Pfeile fallen matt zu Boden.
 Wohin führt das alles?

Wir wissen es nicht. Töricht, sich dagegen zu sträuben. Töricht, die Zerfallssymptome zu
leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstellungen fest und wollt euch ein-
reden, sie seien so nötig und natürlich wie die Sonne. Empfinden nur wir in den großen
Städten das stärker als andre? Haben wir zu wenig Distanz? Leuchtet hier, in den Brenn-
punkten des Hohlspiegels, alles stärker auf ? Richtig mag sein, dass die Provinz das alles
noch nicht fühlt – dass dort noch die Leute über uns und unsern scheinbaren Übereifer
lächeln und vermeinen, das gute Alte sei noch nicht tot und werde eines Tages wieder-
kommen. Es kommt nie wieder.

 Manche verkriechen sich. Nicht nur die Feigen – auch die Feinen und die Stillen. Sie
wollen nicht mehr mittun. Aber es wird mit ihnen etwas getan; es reißt sie immer wieder
hinein; es hilft gar nichts, Scheuklappen anzutun. Armselig versagt selbst die aus dem
Alten herübergenommene Sprache, mit den alten Floskeln, mit den schwerfälligen
Bildern, mit den Ornamenten einer alten Zeit. Nichts stimmt mehr, kraftlos fallen die
alten Worte herunter, weil sie am Neuen keinen Halt mehr haben. Mit keinem Scherz,
keinem Witzwort, keiner Weisheit triffst du in diese Höhen.

Das bürgerliche Zeitalter ist dahin. Was jetzt kommt, weiß niemand. Manche ahnen es
dumpf und werden verlacht. Die Massen ahnen es dumpf, können sich nicht ausdrücken
und werden – noch – unterjocht. Was sich da träge gegeneinander schiebt, gereizt sich
anknurrt und tobend aufeinander losschlägt –: im tiefsten ist es der unüberbrückbare
Gegensatz zwischen Alt und Neu, zwischen dem, was war, und dem, was sein wird.
Das sind Worte:  – gemeint ist die Angst vor dem Neuen, das keiner kennt.

Es scheint wieder eine der Perioden gekommen zu sein, wo ganz von vorn angefangen
werden wird, wo wieder der Mensch auf der Scholle steht und Gräser, Tiere und sich
selbst mit grenzenlosem Erstaunen betrachtet. Und die Hände ausstreckt und nichts
wissen will als von einem ausgestirnten Himmel und von seiner eignen Macht.
Erwachen sie aus dem dumpfen Traum von Bräuchen und Kulturen?

Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht.
Ein Lügner, wers glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie
nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was
das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.
Kurt Tucholsky
~*~
 
 
Wenn man diesen Text gelesen hat, kann man durchaus Parallelen zur heutigen
Zeit erkennen. Man kann den Text so oder so interpretieren.
 
Es ist wohl so, dass sich die Zeiten immer wieder mal ganz drastisch verändern,
weil Menschen sich gerne einer Herde anschließen, die den Aufrufen besessener
Ideologen und Märchenerzählern folgt, ohne selbst zu denken oder fähig zu sein,
 sich eine eigene Meinung zu bilden.
Ob diese sogenannte »Zeitenwende« zum Guten, zum Schlechten, zum Besseren
oder ins Chaos führt, wird erst sehr viel später im Rückblick zu erkennen sein.
Dass eine gewaltige Veränderung in Gang gekommen ist, spürt mittlerweile wohl
jeder. Na ja, vielleicht nicht jeder, weil viele Menschen gerne viel verdrängen,
sich »verkriechen«, nichts hören, sehen oder sagen wollen, weil sie nicht
unangenehm auffallen wollen, alles Negative wegschieben, weil es ihnen zu
kompliziert erscheint oder weil sie schlicht Angst haben, vor dem, was auf sie
zukommen könnte.
Ja, es ist eine düstere, dystopische Zeit und es wird Zeit, dass wenigstens der
Frühling die Tage erhellt, denn schon ist es seit Tagen wieder trüb, grau und
regnerisch. Das Wetter scheint sich diesen düsteren Zeiten anzupassen.

~*~
 
„Unterschätze nie die Macht dummer Leute, die einer Meinung sind.“
Kurt Tucholsky

~*~
 
Überschätze aber auch nie diejenigen, die meinen, die Wahrheit zu kennen, weil 
sie glauben, über viel Wissen zu verfügen. Denn Wissen beruht üblicherweise auf
einem verfügbaren Bestand von Fakten, Theorien und Regeln, die sich durch den
höchstmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnen, sodass von ihrer Gültigkeit
bzw. Wahrheit ausgegangen werden kann. Dabei handelt es sich um Kenntnisse,
die Menschen über die Welt, ihre Funktionsweise und Zusammenhänge erlangen.
Paradoxerweise, und das ist sehr wichtig, können Sachverhalte, die als Wissen
deklariert sind, wahr oder falsch, vollständig oder unvollständig sein.
Wissenschaft, die auf Fakten, Theorien und Regeln basiert, wurde schon allzu
oft widerlegt.

Höre stattdessen nie auf, Fragen zu stellen,
das ist viel wichtiger,
als bereits vorhandenes, vermeintliches früheres Wissen !
~🌞~
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 Bilder mit Freude 😊und KI erstellt by Lauras Home and Garden
 

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