Samstag, 15. Oktober 2022

Die Flucht

Im strengen Winter des Kriegsjahres 1945, als sie mit ihrem Mann und den drei kleinen Jungs vor den Russen flüchten mussten, war sie im vierten Monat schwanger. Nach einem langen Marsch bei eisiger Kälte brach ihr Mann plötzlich am Wegesrand zusammen und starb noch an Ort und Stelle an Herzversagen. Fassungslos sah sie auf den leblosen Körper herunter, während sie ihre Kinder an sich drückte. Dann faltete sie ihre Hände zum Gebet und verharrte eine Weile schweigend neben ihrem toten Mann. Es blieb ihr keine Zeit zu trauern oder sich um ihren toten Mann zu kümmern, sie musste sich alleine mit ihren drei kleinen Söhnen weiter durchschlagen.
  

Ein paar Tage später, bevor sie den Bahnhof erreichten, verlor sie auch noch ihr ungeborenes Baby. Eine Horde russischer Soldaten war plötzlich aus einem tief verschneiten Wald aufgetaucht und über die zu Tode erschrockenen Flüchtlinge hergefallen. Einer von ihnen hatte sie zu Boden gezerrt und war mit einer Mistgabel auf sie losgegangen. Er hatte sie so brutal am Oberschenkel getroffen, dass sie unter der schweren Verletzung, eine Fehlgeburt erlitt.  Sie wäre verblutet, hätten sich die beiden älteren Jungs nicht sofort auf den Weg gemacht, um Hilfe zu holen. In dichtem Schneetreiben waren die Beiden davon geeilt und wenig später mit einem jungen Arzt, den sie weit vorne im Flüchtlingstreck aufgetrieben hatten, zurückgekehrt. Trotz der widrigen Umstände war es dem Arzt gelungen, ihr Leben zu retten. Dass sie die folgenden Wochen der dramatischen Flucht überlebte, war jedoch nur ihrem starken Lebenswillen und der Sorge um ihre drei kleinen Söhne geschuldet. Sie waren es, die ihr über den leidvollen Verlust ihres geliebten Mannes und des Babys hinweghalfen und ihr die Kraft gaben, gegen den Tod anzukämpfen. Sie hatte nicht nur ihren Mann und das Baby auf tragische Weise verloren, auch ihre Heimat und das herrschaftliche Gutshaus in Neustettin hatte sie zurücklassen müssen. 
 
Nach einem langen Fußmarsch hatten sie endlich den Bahnhof erreicht. Im dichten Gedränge hatte sie die beiden älteren Jungs eine Zeitlang aus den Augen verloren, was sie an den Rand der Verzweiflung trieb. Als sie die Beiden schließlich auf dem Bahnsteig, wo ihr ein eisiger Wind ins Gesicht blies, wiederfand, befahl sie ihnen in ihrer Nähe zu bleiben. Nach stundenlangem Warten setzte sich der Zug endlich in Bewegung und ratterte durch die Dunkelheit über defekte Schienen in Richtung Westen. Es war kalt im Abteil. Ein eisiger Wind zog durch die Türen und Fenster, sodass sie sich eng an ihre drei Kinder schmiegte, um sie zu wärmen.
 
 
 
Jedes Mal, wenn sie uns nach über zwei Jahrzehnten in Berlin besuchte, erzählte sie von ihrer Flucht in diesem eiskalten, frostigen Winter, 1945, in dem die Temperatur bis auf minus 20 Grad sank. Ihre Augen nahmen einen seltsamen Glanz an, wenn sie von ihrer Heimat sprach, von Pommern und dem dortigen Leben. Neustettin war immer ihre Heimat geblieben. Sie geriet geradezu ins Schwärmen, wenn sie von den Sommermonaten sprach, von den Kornfeldern so weit das Auge reichte und den Wäldern bis zum Horizont. Es waren die strengen Winter mit klirrendem Frost, schneeverwehten Weiden und dem zugefrorenen See, an die sie sich erinnerte. Und im Herbst war es der Geruch von Pilzen, von feuchtem Laub und feuchter Erde. Ihre Augen leuchteten, als sie sich an den Frühling erinnerte, an die endlos blühenden Rapsfelder und die grünen Wiesen übersät mit Löwenzahn und Klee. Dort, in dieser malerischen Umgebung hatte sie ein sorgloses, glückliches Leben führen können. Auch die vielen Weihnachtsfeste sind ihr bis ins hohe Alter in Erinnerung geblieben, der große Weihnachtsbaum, mit Kerzen und Silberkugeln, die festlich gedeckte Tafel, mit edlem Geschirr und kostbaren Kristallgläsern. Die Schar treuer Dienstboten, die ihr die groben Arbeiten im Haus abnahmen, sodass ihr genügend Zeit für die Kinder und ihren Mann blieb.
 
 

 
Wie schwer musste es für sie gewesen sein, ihr Zuhause zu verlassen und mit der Erinnerung an ihren Mann und das große Anwesen weiterzuleben. Es war ihr nicht leicht gefallen, sich nach der dramatischen Flucht in der neuen, fremden Umgebung einzuleben. Mit der Erinnerung an die weiten Felder, dem großen Waldbestand, dem Gestüt mit der Pferdekoppel, dem kleinen Betrieb, in dem Holz verarbeitet wurde und dem nahegelegenen großen See, in dem die Jungs im Sommer das Schwimmen gelernt hatten. Alles, was einmal ihr Leben ausmachte, hatte sie in diesem wirren Kriegsjahr, als die Russen ihre Heimat überfallen haben, verloren. Sie und ihr Mann hatten sofort, nachdem es im Dorf geheißen hatte, die Russen kommen, das Nötigste zusammengepackt. Bei dichtem Schneetreiben sind sie aufgebrochen, ohne sich noch einmal umzusehen und einen letzten Blick auf ihr Zuhause zu werfen.

 

Die Erinnerung schmerzte, das sah man ihr an. Und obwohl ihr alles genommen wurde, kämpfte sie mit eisernem Willen weiter. Schließlich schaffte sie es mit ihren drei Jungs bis in die Lüneburger Heide. Dort fand sie eine kleine, spärlich eingerichtete Wohnung und eine Stelle als Putzfrau. Sie verdiente gerade genug, um so einigermaßen zu überleben. Ihr Alltag sollte nun aus harter Arbeit und der Sorge um ihre Jungs bestehen. Sie halfen und unterstützten sie, so gut sie konnten. Sie hat nie wieder geheiratet und sie ist nie wieder glücklich geworden. Nie hat sie sich beklagt. Sie hat ihr Schicksal angenommen, auch wenn ihr neues Leben nur noch aus der Erinnerung an eine glückliche Zeit mit ihrem Mann und den Kindern in ihrer alten Heimat bestand. Später sorgten ihre drei Söhne für sie. Bis zu ihrem Tod lebte sie in einer kleinen Dachwohnung im Haus ihres jüngsten Sohnes.
 
~*~
 
Es ist die Geschichte der Mutter meines ersten Mannes, dem mittleren der drei Söhne.
Ich habe diese tapfere und willensstarke Frau immer bewundert und tue das auch heute noch.
Sie war eine Frau von etwa 18 Millionen Flüchtlingen, die 1944/1945 bis 1950 aus ihrer
Heimat, den ehemaligen Ostgebieten vertrieben wurden oder geflüchtet sind und im Westen
ein neues Leben beginnen mussten.
Bis zu 600.000 Menschen starben während der Flucht und Vertreibung.

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Fotos: Pixabay
 

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