Mittwoch, 28. Januar 2015

Die Karrierefrau

Sie war pflichtbewusst, fleißig, korrekt und der Firma gegenüber absolut loyal.
Sie war pünktlich und oft die Letzte, die abends noch hinter ihrem Schreibtisch saß.
Sie hatte viele Mitarbeiter kommen und gehen sehen.

Sie hatte in dieser Firma angefangen zu arbeiten, als sie 20 Jahre alt war und ist
im Laufe der Jahre durch ihren Fleiß, ihren Arbeitseifer und ihr überaus korrektes
Verhalten, die Karriereleiter immer höher hinaufgeklettert.
So hatte sie selbst manchen Manager kommen und gehen sehen.
 
 
 
Sie war ehrgeizig  und verdiente gut. So gut, dass sie sich erst eine und später noch
eine zweite Eigentumswohnung leisten konnte, die sie ihrem Sohn schenkte,
der, während sie arbeitete bei den Großeltern aufwuchs.
Sie war nicht verheiratet und hatte dies auch nicht vor zu tun.
Sie lebte nur für ihre Arbeit und sie lebte gut davon.
Zeit für einen Freundeskreis hatte sie nicht, da sie abends erst sehr spät
nach Hause kam und die Wochenenden, die sie nicht in der Firma verbrachte,
ausschließlich ihrem Sohn widmete.
Fünfundvierzig Jahre blieb sie dieser einen Firma treu.
Ein Wechsel in eine andere Firma war ihr nie in den Sinn gekommen.
Warum auch ?
Und so verging Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, bis zu dem Tag,
an dem sie das Rentenalter erreicht hatte und die Firma verließ.
 
 
Für sie war der Abschied von der Firma gleichzusetzen mit dem Verlust
ihres gesamten Lebensinhaltes.
Es war für sie, als hätte ihr Leben seinen Sinn verloren.
Ihr Sohn war längst aus dem Haus. Und obwohl er mit seiner Freundin in der Nähe
lebte, war deren Freizeit, in der sie seine Mutter hätten besuchen können,
sehr knapp bemessen, da beide berufstätig waren.
  
Sie aber verfügte nun über alle Zeit der Welt und eine sehr hohe Rente.
Sie konnte eine sehr geschmackvoll eingerichtete Wohnung ihr eigen nennen
und sich problemlos den einen oder anderen Wunsch erfüllen.
Sie hätte allen Grund gehabt, sich über ihre neue Lebenssituation zu freuen.
Doch sie wusste nichts mit ihrem Dasein als Rentnerin anzufangen.
Die wenigen Freundinnen aus ihrer Jugendzeit, ebenfalls im Rentenalter,
waren alle verheiratet und viel auf Reisen.
Sie hatte schon seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu ihnen.
Sie hätte auch verreisen können, aber alleine auf Reisen zu gehen oder alleine
etwas zu unternehmen, war so gar nicht ihre Sache.
Sie wusste einfach nicht, was sie jetzt mit der vielen Freizeit anfangen sollte.
Ihr Lebensinhalt war ihre Arbeit gewesen. Was sollte sie nun ohne Arbeit anfangen ?
Wie sollte sie die vielen Stunden des Tages rumkriegen ?
Für Hobbys und Freunde hatte sie nie Zeit gehabt.
Jetzt hatte sie Zeit, aber keine Freunde und keine Hobbys.
 Was sollte sie jetzt nur mit ihrer Zeit anfangen ?
 
Sie langweilte sich, fühlte sich nicht ausgelastet. Sie schlief immer schlechter und
flüchtete sich immer öfter in irgendwelche Krankheiten.
Schließlich verbrachte sie mehr und mehr Zeit in diversen Arztpraxen.
Sie ließ mal das eine und mal das andere Organ untersuchen.
Sie ließ ihr Herz und ihre Schilddrüse überprüfen, die Augen und die Knochen
testen. Sie ließ die Haut auf Schäden untersuchen, die Zähne richten,
die Ohren untersuchen, den Hals und die Nase, u.s.w.
 
Nun hatte sie endlich wieder etwas zu tun und war wieder unter Menschen.
Die ein oder zwei Stunden am Tag, die ihr zwischen Hausarbeit und Arztterminen
blieben, verbrachte sie vor ihrem Computer in sozialen Netzwerken.
So hatte sie zwar wieder Kontakt zu anderen Menschen, wenn auch nur digital,
aber es milderte ihre Einsamkeit ein wenig.

Und Träume ?  Nein, Träume hatte sie keine. Sie hatte nie welche gehabt.
Zum Träumen hatte ihr einfach immer die Zeit gefehlt.
Und heute, in ihrem Alter noch Träume zu haben ?
Das erschien ihr völlig absurd. Wozu noch Träume haben ? Und wofür ?
Und selbst wenn sie Träume hätte, woher sollte sie die Zeit nehmen,
sich ihre Träume zu erfüllen ?



Dafür gab es in ihrem Kalender zwischen all den Arztterminen
gar keinen Platz mehr.

 
~*~

 
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5 Kommentare:

  1. ja, so kann es einem wohl gehen - man sollte sichbei Zeiten seine Zeit besser einteilen und weniger arbeiten, dafür Freundschaften pflegen usw., um dann im Alter nicht ganz allein zu sein.

    lg gabi

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    1. Du hast es auf den Punkt gebracht, liebe Gabi. Leider wird das vielen Menschen oft erst zu spät bewusst.
      Liebe Grüße und einen guten Tag !
      Laura

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  2. Karriere ist nicht alles.Sie sollte sich einen Hund holen,dann hätte sie wieder etwas um die Ohren...;)
    LG Sabine

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    1. Da diese Geschichte eine wahre Geschichte ist, weiß ich dass diese Dame eine Hundeallergie hat.
      Es ist so traurig, ihr zuzuhören - sie hat so gar keine Lebensfreude mehr. Einfach nur traurig, welche Geschichten das Leben manchmal schreibt.
      Liebe Grüße auch für Dich und einen Tag voller Freude !
      Laura

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    2. Tiere können einem so viel geben,mehr als so mancher Mensch.Man kommt auch auf andere Gedanken.Schade dass sie eine Allergie hat...

      Es ist zwar traurig,aber sie hat damals den Weg für sich gewählt.Leider weiss man nicht was das Leben für einen bereit hält.Dann würde man in der Jugend wahrscheinlich einiges anders machen...

      Aber ihr Sohn scheint ja auch den Weg zu gehen...

      LG Sabine

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