Montag, 20. Juni 2016

Samuel, der Gärtner,

war ein freundlicher, höflicher junger Mann,
der mir auf der Insel bei den groben Arbeiten im Garten half.
St. Nicholas Abbey


Sein Arbeitstag begann morgens um 10:00 Uhr und endete nachmittags um 16:00 Uhr.
Nicht, dass ich unbedingt einen Gärtner und ein Hausmädchen gebraucht hätte.
Ich hätte die Arbeit auch alleine geschafft.
Aber wir wollten ihnen Arbeit geben. Sie sollten einen Job haben und Geld verdienen.
Viele der Einheimischen haben keine Ausbildung oder finden in den Hotels
keine Arbeit und da sie von irgendetwas leben müssen und sich auch an den
Lebenshaltungskosten ihrer Familien beteiligen konnten, gaben wir ihnen Arbeit.
(Ich gebe aber gerne zu, dass ich mich sehr schnell an das süße Nichtstun,
was die gesamte Hausarbeit, einschließlich das Kochen, betraf, gewöhnt habe,
weil das nicht gerade zu meinen favorisierten Aufgaben gehörte.)

Wie die meisten Einheimischen arbeiteten sie langsam, sehr langsam,
was bei den Temperaturen und dem tropischen Klima auch gar nicht anders möglich wäre.
Auf der Insel hat man Zeit, viel Zeit. Eilig hat es dort niemand - wirklich niemand.
Für mich war das damals, vor über vierzig Jahren aus Berlin kommend, einer Großstadt,
in der alles schnell gehen musste, sehr gewöhnungsbedürftig und eine große Umstellung.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die Langsamkeit der Insel gewöhnt hatte.
Wurde ich anfangs noch ungeduldig, wenn ein Auto vor mir plötzlich mitten
auf der Straße anhielt, weil der Fahrer einen kleinen Plausch mit einem Bekannten
am Straßenrand halten wollte, so passte ich mich mit der Zeit dem gemächlichen
Lebenstempo der Einheimischen an. Ich habe es sogar als eine Wohltat empfunden,
mir bei allem was ich tat, viel Zeit zu lassen.
Es war ein wahrer Segen, eine wunderbare Bereicherung, weil ich fortan sehr viel intensiver
zu leben begann. Ich fühlte und spürte das Leben; nahm es mit allen Sinnen wahr.
Eine Erfahrung und Erkenntnis, die ich nicht mehr missen möchte und auch heute
noch praktiziere.
 
Samuel hatte seine ganz eigene Art sich der Gartenarbeit zu widmen.
Er ließ sich Zeit, viel Zeit. Auch bewegte er sich nie schnell. Gemächlich machte er sich
an die Arbeit. Eins nach dem anderen. Und alle halbe Stunde ließ er sich unter einer
schattigen Palme nieder und machte eine Pause. Er lehnte sich mit dem Rücken an den
Palmenstamm, nahm seinen Strohhut ab und wischte sich mit einem Tuch über die Stirn.
Danach schloss er für ein paar Minuten die Augen, so, als würde er meditieren.
Oft, wenn ich vom Einkaufen zurückkam, fand ich ihn unter einer Palme sitzend,
den Strohhut ins Gesicht geschoben, ein Nickerchen machen.
Er sprach selten, eigentlich nie, außer ich stellte ihm eine Frage oder gab ihm eine
Anweisung, dann antwortete er immer mit einem höflichen "Yes Ma'am".
Das war sein Leben und er war zufrieden damit. Er hatte alles was er brauchte -
Essen und Trinken und ein Dach über dem Kopf.
Er bewohnte zusammen mit seiner großen Familie ein für die Insel typisches Chattelhaus,
hinter dessen Veranda sich ein kleiner Garten befand, in dem allerlei Gemüse angepflanzt wurde.
Vom Berg aus, an dessen Hang das Haus gebaut war, hatte man einen atemberaubenden
Ausblick auf einen entfernten Palmenstrand, das Meer und den Himmel bis hin zum Horizont.

   
  Rechts im Bild ein Chattelhaus
   
Es war ein sehr einfaches, sehr bescheidenes Leben, das Leben des Gärtners Samuel.
Irgendwann, wenn seine Großmutter und seine Eltern nicht mehr da sein würden, ging das
einfache Haus, in dem er geboren wurde, an ihn über und vielleicht würde er selbst
eine Familie gründen. Er würde die Insel wahrscheinlich nie verlassen, würde nie etwas
anderes von der Welt sehen, als seine Heimat. Ja, er würde wahrscheinlich nicht einmal
eins der feudalen Insel-Hotels betreten und von innen sehen können.
Samuel, der Gärtner verlangte auch gar nicht mehr. Er stellte keine Ansprüche.
Er nahm das Leben wie es kam; er kannte es nicht anders und würde wahrscheinlich auch
nie etwas anderes kennen lernen.
Samuel, der den Weg durch sein Leben gemächlichen Schrittes und ohne Hektik beging,
war ein zufriedener, stiller Mensch und daran würde sich wahrscheinlich bis zu seinem
Lebensende nichts ändern.
Er führte ein beschauliches, übersichtliches Leben in seinem ganz eigenen
überschaubaren Umfeld - auf einer paradiesischen Insel in der Karibik.

*
 
Die Welt ist voll von Leuten,
die das große Glück suchen
und dabei die Zufriedenheit völlig übersehen.
Doug Larson

*
 
Samuel, der Gärtner hat diese Zufriedenheit
schon in jungen Jahren gefunden und
sie hoffentlich nie wieder verloren.
Inzwischen müsste er fünfundsechzig Jahre alt sein.
Wie gerne wüsste ich, wie es ihm heute geht und was aus ihm geworden ist -
aus Samuel, dem Gärtner von der Insel,
die einst auch zu meiner Heimat geworden war.

Es gibt Menschen, die bleiben einem ein Leben lang
in guter Erinnerung.
Samuel ist einer von ihnen.
 

1983 Inselrundfahrt auf St. Lucia, einer Nachbarinsel
 
Und während all der Jahre die ich dort lebte,
war mir das Geschehen im Rest der Welt völlig egal.
Es interessierte mich nicht, was dort geschah.
Nicht einmal das, was sich in meiner alten Heimat ereignete.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt,
zu LEBEN - und zwar ganz intensiv !
Und Heimweh kannte ich nicht - die Insel war zu meiner neuen Heimat geworden -
bis, ja bis das Schicksal etwas anderes mit mir vorhatte.
  
~~*~~
   
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